Ein Mann, der Gott vertraute (Teil 2)

Im Süden von Ningpo, nicht weit von Miss Alderseys Schule, lebte seit einiger Zeit die kleine Missionarsfamilie Jones. Durch des Vaters Krankheit war die Familie lange Zeit in Hongkong aufgehalten worden. Die Krankheit und das Sterben ihres ältesten Kindes war dann noch dazugekommen. So war viel Leid über diese Freunde hereingebrochen, seitdem sie das Land ihrer Berufung betreten hatten. Als sie dann im Juni nach Ningpo kamen, bot sich ihnen Maria als gelegentliche Hilfe an. Sooft die Arbeit in der Schule es ihr erlaubte, begleitete sie Mrs. Jones auf ihren Hausbesuchen in der Stadt.

Es war nicht zu vermeiden, dass der junge Engländer Maria zuweilen im Hause seiner Freunde traf und er an ihr Gefallen fand. Ihr aufrichtiges und natürliches Wesen zog ihn an. Es dauerte nicht lange, und sie begegneten sich wie alte Bekannte. In vielen wichtigen Fragen waren sie gleichen Sinnes. Bald erfüllte sie sein Denken ganz.

Vergeblich wehrte er sich gegen das Verlangen, sie öfter zu sehen. Doch ihr Bild ließ sich nicht aus seinen Gedanken verbannen. Seine Berufung zur Arbeit im Innern des Landes schien von ihm ein eheloses Leben zu verlangen. Schon in wenigen Wochen oder Monaten konnte sich die Tür nach Swatow wieder auftun. Wartete er nicht Tag um Tag auf die Führung seines Herrn, und lasteten nicht die Nöte jenes Gebiets beständig schwer auf ihm? Sollte er nicht mehr in den Süden Chinas geführt werden, dann hoffte er doch irgendwo in der Nähe eine Pionierarbeit mit all ihren Gefahren anfangen zu können. Nein, er durfte seinen Gedanken an sie nicht so viel Raum lassen. Wie durfte er, der nirgends ein eigenes Heim, ein Einkommen oder irgendeinen festen Plan für ein gesichertes Leben kannte, an eine Heirat denken! Er besaß einfach nicht das Recht dazu. Obwohl er Vertreter einer Missionsgesellschaft war, hieß das noch nicht, dass er bestimmt mit einer finanziellen Versorgung rechnen konnte. Schon seit Monaten hatte er kein Geld von ihr bezogen, er wusste ja von ihren Schulden. Es waren vor allem Mr. Bergers Gaben, durch die der Herr seine Bedürfnisse deckte. Wer konnte voraussagen, dass es weiter so blieb? Auf keinen Fall durfte er sich darauf verlassen. Was würden Maria und jene, denen sie anvertraut war, zu einem Leben aus Glauben in China sagen, Glauben sogar für das tägliche Brot?

Es war nun einmal so: Er durfte nicht an eine Heirat denken. Er musste gegen das Verlangen ankämpfen, das ihn zuweilen ganz erfüllte. Die Ereignisse im Süden halfen ihm, seine Gedanken auf andere Dinge zu richten.

Wie ein Blitzstrahl schlug die Nachricht im Missionskreis ein, dass England sich mit China wieder im Krieg befinde. Im Augenblick war ein einziger Funke zur lodernden Flamme geworden. Vierzehn Jahre lang hatte England versucht, das Recht zur Einfuhr von Opium nach China zu erlangen. Trotz der Ablehnung des Kaisers Tao-kwang, der auf keinen Fall „das flüssige Gift“ eingeführt haben wollte, hatte das Schmugglergeschäft ungeachtet des Vertrages weiter geblüht. Nun war der zweite Opiumkrieg aufgebrochen, und vor den Toren Kantons donnerten die Geschütze.

Mitte November erreichten Berichte die nördlichen Häfen, wonach die Erregung unter den Chinesen von Ningpo mit seiner großen Zahl dort ansässiger Kantonesen aufs Höchste gestiegen wäre. Anfang Januar wurde ein Plan zur Vernichtung aller Ausländer in der Stadt und ihrer Umgebung rechtzeitig entdeckt.

„Die uns allen drohende Gefahr war so groß“, schrieb Dr. Parker, „dass die in der Kolonie lebenden Kaufleute sich auf die Flucht vorbereiteten. Sie brachten ihre Waren auf ein Boot, das jederzeit zum Auslaufen bereitlag, und ließen ihre Häuser von bewaffneten Männern bewachen. Nach viel Gebet entschlossen sich Mr. Jones und ich, die Frauen und Kinder nach Schanghai zu senden.“

So kam es, dass Hudson Taylor, der den Schanghaidialekt beherrschte, diese auf der Reise begleitete. In Schanghai konnte er ebenso arbeiten wie in Ningpo, und darum ging es doch. Vielleicht würde sich die Abwesenheit der Missionsleute auf Monate erstrecken.

Persönlich hätte er viel darum gegeben, gerade jetzt in Ningpo bleiben zu dürfen, um über der einen zu wachen, die ihm so viel bedeutete. Doch Miss Aldersey wich nicht von ihrem Platz, und ihre Helferinnen wollten sie nicht allein zurücklassen. Marias Schwester Burella hatte sich kurz vorher verlobt. Sie besaß also einen Beschützer. Maria aber würde allein bleiben, und er durfte ihr seine Liebe nicht zu erkennen geben, weil er nicht wusste, ob sie diese erwiderte. So verließ er das kleine Haus an der Brückenstraße mit übervollem Herzen.

Viereinhalb Monate arbeitete er wieder in der alten Umgebung. Wieder bewohnte er eins der Häuser der LMS, und oft schien er in die alte Zeit zurückversetzt zu sein, als er mit Dr. Parker und seiner Familie dort gelebt hatte. Nur seine chinesische Kleidung, die mit William Burns verbrachten Monate und seine tiefe Liebe zu Maria unterschieden ihn davon. Außerdem hatte er auch noch neue Erfahrungen gesammelt und in drei Jahren Chinaaufenthalt eine gute Kenntnis verschiedener Dialekte gewonnen.

In einer Kapelle der LMS wurde ihm der Predigtdienst übertragen. Ferner widmete er den ständig wechselnden Hörern in verschiedenen Tempeln der Stadt viel Zeit. Weil er mit Mr. Jones zusammen dort regelmäßig predigte, wurden sie jedesmal von bereits bekannten Hörern erwartet, und es ergaben sich viele persönliche Aussprachen.

„Gleich bei der ersten Predigt fand ich das, wonach ich mich gesehnt hatte“, sagte ein junger Weihrauchverkäufer. Krankheit und Not hatten ihn beinahe zum Selbstmord getrieben. Nun suchte er als fanatischer Vegetarier Trost in der Religion. Darum richtete er viele Gebete an Buddha und verbrannte eine Menge Weihrauch vor manchem Götzenbild. Dann sagte er weiter: „Das alles half mir nicht. Dann hörte ich Sie im Tempelgarten von Jesus predigen. Er versteht mich. Wenn ich jetzt mit Feuer statt mit Wasser getauft werden müsste, würde es mich nicht abschrecken.“

Während ihres Schanghaiaufenthalts verteilten die Missionare Hunderte von Evangelien und andere Schriften. Diese wurden wiederum nur an Leute abgegeben, die davon wirklich Gebrauch machen konnten. Das kostete manche Stunde Unterredung. Sie hielten sich vorwiegend an zwei Predigtplätze und fanden dort ein verständiges Publikum.

Inzwischen erreichten Hudson Taylor Briefe aus Swatow, die ihm von der Rückkehr seines verehrten Freundes berichteten und vom Wiederbeginn der dortigen Arbeit. Obgleich er sich freute, dass nun wieder in Swatow gearbeitet werden konnte und Dr. De la Porte die ärztliche Betreuung übernahm, wusste er, dass sein Weg nicht mehr dorthin führte. Ihm war diese Tür verschlossen. Obwohl er immer wieder um Weisung für eine Rückkehr gebetet hatte, zeigten ihm die vielen Hindernisse, dass der Herr ihn nicht dort haben wollte. Das genügte ihm. Er nahm die Sache nicht wieder auf. Es war einer seiner besonderen Charakterzüge, dass er nie mehr an etwas zweifeln oder rütteln konnte, wenn er es als göttliche Leitung erkannt hatte.

So verlockend auch Mr. Burns‘ Briefe lauteten, und so wenig ihm die Arbeit in Schanghai zusagte, war Swatow für ihn abgetan. Sein Weg in Schanghai war nicht leicht. Die Missionare sahen sich auf allen Seiten von viel Leid und Not umgeben. In Nanking herrschte Hungersnot. Es kamen Scharen von Flüchtlingen aus jener Stadt. Tausende schlossen sich den bereits in Schanghai lebenden Bettlern an. So konnte man nicht ausgehen, ohne mancherlei traurige Auftritte zu sehen; doch zu helfen vermochte keiner.

Als Jones und Taylor eines Abends aus der Stadt zurückkehrten, fanden sie zu ihrem Schrecken einen toten Bettler vor ihrer Tür liegen. Das Wetter war so kalt, dass er wahrscheinlich erfroren oder verhungert war. Niemand hatte auf ihn geachtet. Derartige Anblicke boten sich ihnen häufig. Es war schwer, sie zu ertragen. Hudson Taylor schreibt über jene Tage:

„Wir beluden uns mit Lebensmitteln und verteilten sie. Viele dieser armen Leute leben buchstäblich zwischen Gräbern. Es sind meist einfache, niedrige Höhlungen von drei bis vier Meter Länge. Die Leute brechen ein Ende auf und kriechen hinein. Auf diese Weise finden sie wenigstens ein Nachtquartier. Wir fanden viele Nackte, Kranke und Halbverhungerte.

Auf unsern Gängen kamen wir auch zu den Trümmern eines Hauses, das von den stürmischen Tagen zeugte, die Schanghai erlebt hatte. Weil es noch etwas Schutz vor dem Wetter gewährte, hatte eine Schar Bettler davon Besitz ergriffen. Manche konnten noch ausgehen und betteln. Andere lagen sterbend umher. Von da an besuchten wir den Ort regelmäßig und brachten Hilfe, soviel wir konnten. Es ist nicht leicht, für Leib und Seele zugleich zu sorgen. Wir taten aber, was wir konnten. Der Same wurde gewiss nicht vergeblich ausgestreut.“

Es fehlte aber in dieser Zeit auch nicht an inneren Kämpfen. Eine große Schuld belastete in der Heimat die Missionsgesellschaft, der sie angehörten. Dies lag schwer auf Hudson Taylors Herz und Gewissen. Schon längere Zeit hatte er mit den Verantwortlichen der Gesellschaft korrespondiert, weil er erkannte, dass er nicht länger dieser Mission angehören durfte, wenn in deren Verwaltung keine Änderung getroffen wurde. Obwohl der Zeitraum, für den er sich verpflichtet hatte, erfüllt war, fiel ihm der Gedanke an eine Trennung sehr schwer. Er hatte gebeten, man möge ihm nur dann Geld zukommen lassen, wenn solches eingegangen wäre, weil er sich mit seinen Bedürfnissen lieber an Gott direkt wenden, als von geborgtem Geld leben wollte. Das Heimatkomitee aber war anderer Ansicht. Deshalb stellte sich ihm die Frage, ob er die Verbindung nicht lösen sollte.

Nicht dass er damals oder später frei von aller Bevormundung sein wollte, sondern er fragte sich oft, zu welcher Gesellschaft er eigentlich passen würde, weil er weder ordinierter Pfarrer war noch sein Medizinstudium abgeschlossen hatte.

„Wahrscheinlich wäre ich in keiner Gesellschaft willkommen“, schrieb er im Frühling seiner Mutter, „doch ich weiß, der Herr wird für mich sorgen.“

Auch in seiner persönlichen Angelegenheit, seiner wachsenden Liebe zu Miss Dyer, die, wie er meinte, nie sein eigen werden konnte, war er allein auf Gott gestellt. Er hatte gehofft, die Trennung würde Vergessen bringen. Doch es war umgekehrt. Bisher hatte er mehr in jugendlicher, beinahe knabenhafter Weise geliebt; jetzt schien alles Denken und Fühlen durchdrungen von dem Bewusstsein, dass ihm ein anderes Leben mehr bedeutete als sein eigenes. Er musste ständig an sie denken, und immer dann, wenn er Gott suchte, empfand er die innere Einheit mit ihr am tiefsten und sehnte sich nach ihrer Gegenwart. Er wusste nichts von ihren Gedanken und Gefühlen, wenn sie überhaupt an ihn dachte oder etwas für ihn empfand. Wohl war sie ihm immer freundlich begegnet, aber das tat sie auch bei andern. Deshalb liebten sie alle. Scheinbar dachte sie überhaupt nicht ans Heiraten. Es hatten sich, wie er meinte, passendere Männer um ihre Hand beworben. Was könnte sie zu dem Besitzlosen, Unbedeutenden hinziehen?

Hätte er doch damals einen Vertrauten gehabt, mit dem er über seine Hoffnungen und Befürchtungen während der ersten Monate in Schanghai hätte reden können! Wie viel leichter wäre alles gewesen! Erst Ende März begannen die Freunde, mit denen er zusammenwohnte, durch unerwartete Umstände etwas von seinem Herzenszustand zu ahnen. Mr. und Mrs. Jones liebten ihn, seit sie ihn kannten. Sie waren sich durch das gemeinsame Erleben in Schanghai sehr nahe gekommen. Aber eigentlich erst, als Mrs. Jones durch Ansteckung bei Hausbesuchen unter den Armen an Blattern erkrankt war und sie ihre Kinder dem jungen Missionar überlassen musste, wussten sie, wer er war. Sie sahen, wie liebevoll er sich um die Kleinen kümmerte, und waren ihm von Herzen dankbar dafür. In den Tagen nach der schweren Krankheit, von der sich die Missionarin nur langsam wieder erholte, konnte seine Liebe den Freunden nicht länger verborgen bleiben.

Ihre Freude darüber verwunderte Hudson Taylor. Ohne ihn besonders zu ermutigen, priesen sie Gott darüber. Sie meinten, nie wären ihnen Menschen begegnet, die so gut zueinander passen würden. Jetzt erkannte er klar, was er zu unternehmen hatte. Das übrige musste er dem Herrn überlassen, dem ihr Leben gehörte.

So fasste er Mut und schrieb Maria alles, was ihm seit Monaten im Herzen brannte. Tage, Wochen vergingen. Kam denn überhaupt keine Antwort? Doch endlich kam sie. Aber welche Enttäuschung! Mit solchem Ton und Inhalt hatte er nicht gerechnet! Gewiss, es war Marias Handschrift, die er so gut kannte. Aber war es wirklich sie selbst, die aus den Worten zu ihm sprach? Kurz und ablehnend sagte der Brief, dass sein Wunsch unerfüllbar bleiben müsste und dass er, falls er ein edeldenkender Mensch wäre, die Schreiberin in dieser Angelegenheit nicht weiter belästigen möchte.
Hätte er in Marias Herz sehen können und ihre Angst und Not gekannt, unter der der Brief geschrieben worden war, wäre sein Kummer nicht so tief gewesen. Nun aber durfte er sie nicht besuchen, konnte nicht mit ihr reden und ihr auch nicht schreiben. Er verstand sie nicht mehr. Allein das unausgesprochene Verständnis seiner Freunde, Mr. und Mrs. Jones, tröstete ihn. Ohne sie hätte er den Kummer nicht ertragen können. Dabei erinnerte ihn gerade ihre glückliche Ehe beständig an ein ihm selbst versagtes Paradies.

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Aus: H. und G. Taylor
Hudson Taylor
Ein Mann, der Gott vertraute

Brunnenverlag 1981
Seite 120 bis 136