Ein Mann, der Gott vertraute

Wie eigenartig verengt sich doch zuweilen der Lebensweg! Hudson Taylor schrieb viele Jahre später über diese Zeit:

„Es ist interessant zu sehen, wie Gott die verschiedenen Ereignisse so anordnete, dass sie in die gleiche Zeit fielen und dadurch meine Rückkehr nach Swatow verhindert wurde. Ich konnte damals nicht wissen, dass das Zerschlagen all meiner Pläne und die Beendigung einer kostbaren Partnerschaft in der Arbeit ein Höhepunkt meines Lebens auf menschlicher Ebene werden sollte. Dadurch wurde ich in eine Verbindung geführt, die am besten zu mir selbst und zu meiner Lebensaufgabe passte.“

Gottes Hand lag auf der Türklinke. Die geschlossene Tür gehörte zu seinem Plan und musste zum Besten seines Dieners und zur Vollendung seiner eigenen großen Ziele dienen.

Hudson_Taylor-1852

Hudson Taylor vor seiner Ausreise nach China. Gemalt von seiner Tante im Jahr 1852.

Maria Dyer war von tiefer, feinfühliger Art. Einsam von Kindheit an, hatte sie sich schon immer nach einer wirklichen Herzensfreundschaft gesehnt. An ihren Vater konnte sie sich kaum erinnern, und von ihrer geliebten Mutter wusste sie wenig. Diese starb, als Maria zehn Jahre alt war. Mit ihrem Bruder und einer Schwester hatte sie nach dem Tod der Mutter Penang verlassen. Ein Onkel nahm die drei Waisen auf und sorgte für ihre Ausbildung. Die meiste Zeit verbrachten sie in Internatsschulen.

Der Ruf nach China erreichte sie durch Miss Aldersey, die für ihre Schule in Ningpo eine Lehrerin brauchte. Beide Schwestern bewarben sich um diesen Posten. Es ging ihnen dabei nicht um Missionsarbeit, aber sie wussten, dass ihre Eltern diesen Weg gutgeheißen hätten. So jung sie waren, hatten sie doch bereits Erfahrungen in ihrem Beruf. Weil sie keine Entschädigung beanspruchten und sich auch nicht voneinander trennen wollten, lud Miss Aldersey beide Schwestern zur Mitarbeit ein.

Maria, die Jüngere, konnte diese Reise nie wieder vergessen, denn sie erlebte damals, was es heißt, in den Frieden Gottes einzugehen. Bisher hatte sie sich ernstlich bemüht, aus eigener Kraft Christ zu sein, dabei aber stets empfunden, dass ihr „das eine, das Not tut“, noch fehlte und nach einer Antwort gesucht. Nun richteten sich ihre Gedanken nur noch auf Christus und sein Erlösungswerk, die einzige Grundlage der Vergebung, zu der weder unsere Gebete noch unsere Anstrengungen etwas beitragen können, die wir aber annehmen müssen. Es ging ihr nur langsam auf, dass sie erlöst war, dass ihr vergeben und sie von ihren Sünden gereinigt worden war, weil Jesus an ihrer Stelle starb. Gott hatte Jesus als Stellvertreter und Erretter anerkannt, und sie selbst durfte diesen Erlöser einfach im Glauben annehmen. Schlicht und vertrauensvoll wie ein Kind wandte sie sich von allem ab, was nicht zu ihm passte. An Gottes Wort zweifelte sie nicht. Wenn er sagte: „Es ist nichts Verdammliches an denen, die in Christus Jesus sind“, dann musste es doch stimmen. Und sie erlebte es, dass „sein Geist unserm Geist Zeugnis gibt, dass wir – jetzt – Gottes Kinder sind“.

Diese echte Umkehr mit allem, was ihr dadurch geschenkt wurde, befähigte sie nun zum Missionsdienst. Dieser war alles andere als das philanthropische Unternehmen, zu dem sie sich aus Liebe zu den Eltern entschlossen hatte. Es war ein natürlicher und notwendiger Ausdruck ihrer tiefen, zunehmenden Liebe zu Jesus Christus, ihrem Erlöser, Herrn und König. Er hatte für sie alles neu gemacht, und das für Zeit und Ewigkeit. Das Wenigste, was sie nun für ihn tun konnte, war eine völlige Hingabe ihres Lebens an ihn. Darum nahm sie mit einem ihr bisher unbekannten Frieden ihren reichen, oft schwierigen Dienst in Miss Alderseys Schule auf.

„Diese Schule war ein vorbildliches Institut“, schrieb Dr. W. Martin, späterer Rektor der Universität Peking. „Drei Jahre diente ich auf Miss Alderseys Wunsch ihrer Hausgemeinde als Seelsorger. Ich erinnere mich gern an die Energie, die diese seltene Frau trotz ihrer schwachen Kraft und mancherlei Gebrechen auszeichnete. Sie machte auf die gläubigen und heidnischen Chinesen einen tiefen Eindruck. Letztere glaubten allerdings, Miss Aldersey sei als Abgesandte Englands nach China gekommen, weil England von einer Königin regiert wurde. Sie stellten sogar die Behauptung auf, der britische Konsul gehorche jedem ihrer Befehle.

Erdbeben schrieben die Leute entsetzt einer magischen Kraft zu, die von Miss Aldersey ausgehen sollte. Bei ihrem täglichen Spaziergang oft vor Sonnenaufgang auf der Stadtmauer sah man sie eine Flasche öffnen, in der sie wie die Leute behaupteten bestimmte Geister gefangenhielt. Diese sollten Macht haben, die Erdpfeiler zu erschüttern, wenn sie der Flasche entströmten. Es ist eigentlich nicht verwunderlich, dass so von ihr gedacht wurde. Ihre eigenartigen Gewohnheiten mussten etwas Unheimliches vermuten lassen, wanderte sie doch jahraus, jahrein in der Morgenfrühe auf der Stadtmauer umher. Sie tat dies mit einer solchen Pünktlichkeit, dass während des Winters jemand sie mit einer Laterne begleiten musste. Eine Flasche, die sie ständig bei sich trug, enthielt tatsächlich ,starke Geister‘. Es handelte sich um Hirschhornwasser, das ihr von ihren Kopfschmerzen Befreiung verschaffte, aber sie auch vor üblen Gerüchen schützte. Weil sie sich im Sommer nie von ihrer Schule trennen und am Meer Erholung suchen wollte, pflegte sie täglich die neun Stockwerke der Pagode hinaufzusteigen, um während der langen, heißen Nachmittagsstunden den frischen Meereswind einatmen zu können. Ständig ließ sie sich von einigen Schülerinnen begleiten, damit keine Zeit ungenützt verstrich. Sie ging so sparsam mit der Zeit um, dass ihr die Schülerinnen sogar während ihrer Mahlzeiten vorlesen mussten.

Ich kann wirklich sagen, dass ich unter der großen Zahl hingebungsvoller Frauen, die in und für China arbeiteten, keine edlere fand.“

Für ein junges Mädchen wie Maria war das kein leichter Posten. Gewiss, sie lebte mit ihrer Schwester zusammen und fand im Missionarskreis in Ningpo einige Freundinnen. Sie kannte jedoch niemanden, der sie in den wichtigsten Dingen verstanden hätte.

Aber dann kam er, der junge Missionar.

Sie war sofort tief beeindruckt von ihm, denn sie erkannte in ihm einen Menschen mit dem gleichen Verlangen nach Heiligung und ständiger Gemeinschaft mit Gott. Irgendetwas ging von ihm aus, das beruhigend wirkte. Sie fühlte sich von ihm verstanden. Die Welt, in der er lebte, war wirklich, und er rechnete offensichtlich mit einem lebendigen, allmächtigen Gott. Obgleich sie ihn selten sah, bedeutete ihr das Wissen um sein Nahesein Trost. Als er nach sieben Wochen Ningpo wieder verlassen hatte, wunderte sie sich sehr, dass sie ihn vermisste. Deshalb waren ihre Freude und Überraschung groß, als er wieder von Schanghai zurückkehrte. Es mag sein, dass ihr damals die Augen aufgingen und sie die Gefühle verstand, die sie für ihn empfand. Auf jeden Fall blieb ihr der Zustand ihres Herzens nicht länger verborgen, und sie gab ihn vor sich selbst und vor Gott offen zu. Doch mit keinem Menschen hätte sie darüber reden mögen, da sie nur zu gut merkte, dass sein chinesisches Gewand und seine ganze Art des Umgangs mit Chinesen ihren Bekannten missfielen. Sie betete viel in dieser Zeit und ließ sich nichts von dem anmerken, was in ihrem Innern vorging.

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Aus: H. und G. Taylor
Hudson Taylor
Ein Mann, der Gott vertraute

Brunnenverlag 1981
Seite 120 bis 136