Ein Mann, der Gott vertraute (Teil 4)

Nach dieser Unterredung fühlte sich Hudson Taylor gebunden. Er durfte also Maria weder schreiben noch im Hause seiner Freunde sprechen. Eins aber wusste er jetzt: Zwischen Miss Aldersey und der Familie Dyer bestand kein Verwandtschaftsverhältnis. Deshalb bat er um die Erlaubnis, an Marias Onkel in London schreiben zu dürfen.

Nun konnte er die Sache ruhig dem Herrn überlassen. Und Gott enttäuschte ihn nicht. Gott hat seine eigenen Wege, seine Pläne durchzuführen. In diesem Fall bediente er sich eines Platzregens.

An einem drückend heißen Julinachmittag versammelten sich die Missionarinnen in Mrs. Jones‘ Haus zur Gebetsstunde. Wie gewohnt waren alle Missionen vertreten. Es zeigte sich, dass sie leichter hergekommen waren, als sie zurückkehren konnten. Plötzlich begann es wolkenbruchartig zu regnen. Das Wetter entlud sich flußaufwärts. Bald ergossen sich über Ningpo mächtige Wasserfluten. Jones und Taylor konnten wegen der überschwemmten Straße nicht rechtzeitig heimkehren. Als sie endlich kamen, hatten die meisten Damen sich entfernt. Nur einen einzigen Diener trafen sie an, der ihnen sagte, dass Mrs. Bausum und Miss Dyer noch immer auf ihre Sänften warteten.

„Geh du in mein Arbeitszimmer“, sagte Mr. Jones zu seinem Gefährten, „ich will einmal sehen, ob sich nicht jetzt eine Unterredung vereinbaren lässt.“

Und die beiden Damen waren bereit zu einem Gespräch. Kaum wissend, was er tat, eilte Hudson Taylor die Treppe hinauf. Gewiss, es befanden sich noch andere im Raum, doch er sah nur Maria. Ihr Gesicht verriet ihm mehr, als er sich hätte träumen lassen. Eigentlich wollte er sie nur fragen, ob er an ihren Vormund schreiben dürfe; nun aber brachte er es nicht fertig, länger zu schweigen. Und Maria? Auch sie vergaß alle Schüchternheit, als sie sah, dass sie von Freunden, die sie liebten und verstanden, umgeben war. Ja, er solle schreiben und sich nicht länger sorgen. Er bedeute ihr so viel wie sie ihm. Was tat es, dass die andern es hörten?

Zusammen brachten sie ihr Anliegen vor den Herrn.

Der Brief, von dem so viel für die beiden abhing, wurde Mitte Juli geschrieben. Frühestens in vier Monaten konnten sie mit einer Antwort rechnen. Aus Rücksicht auf Miss Aldersey vereinbarten sie, sich gegenseitig keine Briefe zu schreiben, bis sie um die Meinung des Onkels wussten. Maria hatte Miss Aldersey natürlich von Hudson Taylors Brief an den Onkel gesagt. Dass die Dinge trotz all ihrer Gegenarbeit so weit hatten gedeihen können, schien der alten Dame unglaublich. So machte sie sich, von aufrichtiger Sorge um das Glück ihrer jungen Freundin getrieben, daran, den fernen Onkel für ihre Ansicht zu gewinnen. Bestimmt würde er das Unpassende einer solchen Verbindung einsehen. Nun galt es nur noch zu warten, bis seine Antwort käme. –

Die kleine Schar von Gläubigen und Wahrheitssuchenden, die sich jeden Sonntagmorgen zu einer Andacht zusammenfand, wunderte sich über die beiden neuen Spruchrollen an einer der Wände im Wohnzimmer an der Kuen kiao-teo-Straße. Jedes Wort, in schöner chinesischer Handschrift geschrieben, war gut leserlich, doch was bedeuteten die Worte “I-pien-i-seh-er“, “Je-ho-hua-i-leh“?

Der junge Missionar, der seit einigen Wochen durch Krankheit an sein Zimmer gefesselt war, hätte sie erklären können. In stiller Gemeinschaft mit Christus war ihm der Reichtum des Inhalts dieser Worte in einer unvergesslichen Weise gezeigt worden: „Ebenezer – bis hierher hat der Herr geholfen“, und für alle zukünftigen Nöte: „Jehova Jireh – der Herr wird’s versehn“. Mit welcher Freude sprach er über die kostbare Botschaft dieser Worte, als seine Kräfte zurückkehrten!

Dieser kleine, intime Kreis war Hudson Taylors besondere Freude. Nur wenige gehörten dazu. Während seiner Krankheit hatte er viel für jedes einzelne Glied gebetet. Herausgenommen aus seinem Predigtamt und der Arbeit an Kranken, fand er Zeit, für jeden ernsten Wahrheitssuchenden vor Gott einzutreten, und zu diesen gehörte Mr. Nye, ein Geschäftsmann. Er war wohl der aufmerksamste Suchende.

Als dieser eines Abends am Missionshaus vorbeikam, in das kurz vorher Hudson Taylor und Mr. und Mrs. Jones eingezogen waren, fiel ihm auf, dass hier etwas Besonderes vorging. Er hörte ein Läuten von einer großen Glocke und sah, wie sich daraufhin Einheimische näherten und das Haus betraten. Es müsse sich wohl um eine Versammlung handeln, sagte er sich. Auf seine Fragen erfuhr er, dass in dieser „Jesushalle“ von fremden Lehrern über religiöse Dinge gesprochen würde. Daraufhin folgte er den andern. Als frommer Buddhist beschäftigte er sich besonders eifrig mit den unweigerlichen Strafen als Folge von Sünde und Schuld bei der Seelenwanderung.

Dann hörte er einen jungen Ausländer in chinesischer Kleidung aus seinen „heiligen Klassikern“ lesen: „Gleichwie Mose in der Wüste eine Schlange erhöht hat, also muss des Menschen Sohn erhöht werden, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, dass er die Welt richte, sondern dass die Welt durch ihn errettet werde.“

Nye war an dem Abend als einer der unendlich Vielen gekommen, „die durch die Furcht des Todes ihr ganzes Leben Knechte sein müssen“.

Während er mit den andern Hörern dasaß und zuhörte, dämmerte Hoffnung in seinem Herzen auf. Das Alte verging, und am Horizont seines Lebens sah er die Sonne aufgehen, die alles neu macht. Die Versammlung war zu Ende. Der fremde Prediger hatte aufgehört zu sprechen. Nun erhob sich Nye, der es gewohnt war, in religiösen Dingen die Leitung zu haben. Er blickte auf die Versammelten und sagte: „Wie schon mein Vater vor mir, habe auch ich lange nach der Wahrheit gesucht, ohne sie zu finden. Auch auf meinen weiten Reisen bin ich ihr nirgends begegnet. In der Lehre des Konfuzius, im Buddhismus und Taoismus habe ich keine Ruhe gefunden. Doch in dem, was ich heute Abend hörte, finde ich Frieden. Hinfort glaube ich an Jesus.“

Die Wirkung dieser Worte war tief, denn jedermann kannte Nye und achtete ihn. Keiner der Anwesenden war so bewegt wie der Missionar. Es folgten viele Gespräche, und Hudson Taylor erlebte die unaussprechliche Freude, dass der Herr ihn gebrauchte, durch ihn wirkte und diese Seele errettete.

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Aus: H. und G. Taylor
Hudson Taylor
Ein Mann, der Gott vertraute

Brunnenverlag 1981
Seite 120 bis 136