Ein Mann, der Gott vertraute (Teil 3)

Und Maria? Als sie sich von ihrer Überraschung erholt hatte, in die der Brief sie versetzt hatte, war sie zu ihrer Schwester geeilt. Sie sollte sich als erste mit ihr freuen. Und dann musste Miss Aldersey auch sogleich in ihr Geheimnis eingeweiht werden. Gewiss würde sie die Verlobung gutheißen. Auf alle Fälle hatte sie seinerzeit nichts dagegen eingewandt, als Burella ihr die eigene Verlobung angezeigt hatte. Doch wie tief waren Miss Alderseys Bestürzung und Ärger, als sie die Geschichte vernahm.

„Mr. Taylor! Dieser junge Habenichts? Wie kann er überhaupt an eine solche Verbindung denken! Was fällt ihm ein! Selbstverständlich muss dieser Antrag sofort und endgültig abgelehnt werden.“

Vergeblich versuchte Maria, ihr verständlich zu machen, was er ihr bedeutete. Damit verschlimmerte sie die Sache nur noch mehr. Miss Aldersey war überzeugt davon, dass Maria sofort von dieser Torheit befreit werden müsste. Deshalb nahm die wohlmeinende ältere Freundin die Angelegenheit in der besten Absicht in ihre Hand. Der Antwortbrief musste nach ihrem Diktat geschrieben werden. Maria hatte zu gehorchen. Sie war zu jung und unerfahren, um sich Miss Alderseys Entschluss zu widersetzen, die in ihrer Überzeugung auch noch von ihren Freunden unterstützt wurde. Maria blieb nichts anderes übrig, als ihren Kummer und die erfahrene Demütigung ihrem himmlischen Vater zu überlassen, der allein den Ausgang kannte. Als sich sogar ihre Schwester von der Richtigkeit der Überlegungen ihrer Vorgesetzten hatte überzeugen lassen, folgten bange, einsame Stunden, in denen sie nur der Gedanke stärkte, dass dem Herrn nichts, aber auch gar nichts unmöglich sei.

Hudson Taylor schrieb über diese Zeit:

„Wir müssen es lernen, uns in der Geduld zu üben. Darum lässt uns unser treuer Gott segensreiche Erfahrungen machen, durch die wir darin erstarken. Obgleich er uns oft beinahe über unser Vermögen prüft, zeigt er sich doch immer zur Hilfe, zum Durchtragen bereit. Unsere Kümmernisse wären leichter und weniger zahlreich, wenn sich unsere Herzen bereitwilliger seinem Willen fügten.

Ich ging in der letzten Zeit durch viel Leid. Die Hauptursache meines Jammers liegt in der eigenen Unwilligkeit zur Unterwerfung und zum völligen Ruhen in Gott. Wenn ich es doch lernte, in allem einzig seine Verherrlichung zu suchen! Wenn ich ihm doch treuer nachfolgte und bewusster auf sein Kommen wartete! Warum nur lieben wir ihn so oberflächlich? Ist er nicht der Schönste unter den Menschenkindern? Liebt er selbst uns nicht mit vollkommener Liebe? Ist nicht sein Opfertod am Kreuz Beweis dafür? Bete für mich!“

Es ist vielleicht nicht erstaunlich, dass sich ihm gerade in diesen Tagen ein Buch der Bibel, das er bisher nicht verstanden hatte, voller Schönheit auftat. Sein tiefes Verständnis für das Hohelied Salomos ist auf diese Zeit zurückzuführen, in der er die Liebe zu Maria ganz in Gottes Hand legen musste. Nie hätte er so verstanden, was Christus den Seinen sein will und was er von den Seinen erwartet. Es war eine herrliche Entdeckung, die sich in späteren Jahren noch vertiefte und für die Ewigkeit Frucht tragen sollte. Alle, die Hudson Taylor in seinen späteren Jahren nahestanden, kannten seine besondere Liebe zu diesem Buch der Bibel und seine Vorliebe, darin auch sein persönliches Verhältnis zu Christus geschildert zu sehen.

Briefe an Mutter und Schwester, in denen er über die Ereignisse im Frühling 1857 berichtete, geben Einblick in sein Denken.

„Meine liebe Amalie!

Obwohl es schon spät ist, kann ich nicht einfach schlafen gehen, ohne dir einige Zeilen geschrieben zu haben. Alles auf dieser Erde ist so vergänglich, und wir wissen nicht, was die nächste Stunde bringt. Nur eins wechselt nicht: Gottes Liebe. Unser herrlicher Jesus bleibt derselbe und wird es immer bleiben. Bald wird er kommen und uns zu sich nehmen.

Hast du dich schon einmal in das Hohelied vertieft? Es ist ein köstlicher Garten, an dem wir uns erfreuen können. So ist es auch mit dem 54. Psalm. Ist nicht der Gedanke wunderbar, dass sogar das innigste Band auf Erden nur schwach die Liebe zu seinen Erlösten widerspiegelt, zu denen ich mich auch zähle? Wie können wir aber unsern herrlichen Jesus genügend lieben, wie genug für ihn tun? Bald wird er uns zu seinem Hochzeitsfest einladen, dem Hochzeitsmahl des Lammes. Nicht als Gäste, sondern als Braut werden wir, in das fleckenlose Kleid seiner Gerechtigkeit gehüllt, unsern Platz freudig einnehmen. Die Zeit ist kurz. Lebten wir doch als solche, die auf ihren Herrn warten und mit Freuden bereit sind, ihm zu begegnen!“

Die ersten heißen Sommertage brachten für Hudson Taylor und seine Gefährten eine Veränderung. Die vor der Hungersnot Geflüchteten zogen wieder in die Dörfer der weiten Ebene zurück, um ihre Felder abzuernten. Im Krieg zwischen China und England war eine Pause eingetreten, die in Ningpo und seiner Umgebung eine aggressive missionarische Arbeit ermöglichte. Doch an ein Vordringen in das Inland konnte vorläufig nicht gedacht werden. Darum entschlossen sich die Missionare, irgendwo eine Gemeinde mit Predigern und Evangelisten aufzubauen, und rechneten mit Gottes Beistand. Die so unterrichteten Gläubigen sollten später das Werk selbständig weiterführen. Mit diesem Plan kehrten sie nach Ningpo zurück. Vorher hatten sie einen Schritt gewagt, der für die Zukunft von großer Wichtigkeit war. Hudson Taylor hatte im Mai, drei Jahre und drei Monate nach seiner Ankunft in China, seine Beziehungen zur CEG gelöst. Veranlassung zu diesem Schritt waren nicht die vielen Schwierigkeiten, die er mit dieser Missionsgesellschaft erlebt hatte, sondern die verschiedene Auffassung im Blick auf das Schuldenmachen. Er schrieb darüber:

„Dieser Schritt war verbunden mit vielen Glaubensproben. Jedoch lernte ich den Herrn dadurch besser kennen. Ich hätte diese Prüfungen nicht missen wollen. Gott wurde mir dadurch größer, wirklicher und vertrauter. Meine gelegentlichen Geldschwierigkeiten waren nicht die Folge unzureichender Versorgung für mich persönlich.

Wir verbrauchten zu viel für die Armen und die Hungernden um uns her. Prüfungen noch anderer Art überlagerten diese Schwierigkeiten und führten in Tiefen hinab, damit mehr Frucht gewirkt wurde. Wie glücklich ist man, mit Miss Havergal bekennen zu können:

Wer ihm völlig traut, find’t ihn völlig treu.

Er bleibt der unwandelbar Treue, auch wenn wir selbst ihm nicht völlig vertrauen. Er ist getreu, ob wir ihm vertrauen oder nicht. ,Glauben wir nicht, so bleibt er treu; er kann sich selbst nicht verleugnen.‘ Wie verunehren wir unsern Herrn, wenn wir ihm nicht vertrauen, und was verlieren wir an Frieden, Segen und Sieg, wenn wir uns auf diese Art gegen den Wahrhaftigen versündigen! Möchten wir es nie wagen, ihn anzuzweifeln!“

Welche tieferen Führungen noch reicheren Segen brachten, ist leicht zu erraten. Zweimal täglich kam Hudson Taylor auf dem Weg zur Brückenstraße an Miss Alderseys Schule vorbei. Maria wohnte noch immer dort. Die Leitung lag jedoch jetzt in Mrs. Bausums Händen. Taylor hatte Maria seit seiner Rückkehr nach Ningpo im Juni wiedergesehen, doch stand zwischen ihnen eine Scheidewand, die nicht beseitigt werden konnte, die Bitte, eine gewisse Sache nicht mehr zu berühren. Sie begegnete ihm allerdings lieb und freundlich wie früher. Miss Aldersey hatte ihre ablehnende Einstellung auch den Freunden gegenüber geäußert, bei denen er jetzt wohnte. So war seine Lage doppelt peinlich.

Bald nach ihrer Rückkehr von Schanghai hatte Mrs. Jones Maria gebeten, sie wieder bei ihren Hausbesuchen zu begleiten. Sie sprach nicht mit Maria über die Angelegenheit, und diese berührte nicht, was ihr Herz ganz erfüllte. Miss Aldersey aber kannte keinerlei Zurückhaltung. Nach einer Gebetsstunde in einem andern Stadtteil schüttete sie gegenüber Mrs. Jones ihren ganzen Zorn aus. Sie habe gute Gründe dazu, meinte sie. Hatte Mrs. Jones nicht dazu verholfen, dass die jungen Leute sich da oder dort einmal gesehen hatten? Dabei gehöre Miss Dyer doch einer andern Gesellschaftsklasse an als Mr. Taylor. Sie habe ein eigenes kleines, ausreichendes Einkommen, sei gebildet, begabt, anziehend und habe passendere Bewerber. Es sei unverzeihlich, dass diese Person sich der jungen, unerfahrenen Maria genähert habe. Dazu habe er noch die Kühnheit besessen, wieder nach Ningpo zurückzukehren, obgleich man ihm deutlich genug gesagt hätte, wie unerwünscht er wäre.

Hudson Taylors Stellung als unabhängiger Missionar, der sich ganz auf seinen Glauben verließ, wurde im Missionarskreis heftig kritisiert. Man redete von ihm als einem, „den niemand berief“, der „zu niemandem gehöre“ und „von niemandem als Prediger des Evangeliums anerkannt würde“. Doch damit nicht genug! Es wurden noch andere Anspielungen gemacht. Er sei „fanatisch, unzuverlässig, krank an Leib und Seele“, mit einem Wort: „vollkommen untüchtig“.

Das Gespräch brachte allerhand an den Tag. Ehe Miss Aldersey sich verabschiedete, erfasste Mrs. Jones die Lage: Es wurde von ihr verlangt, Mr. Taylor in keiner Weise bei einem weiteren Antrag zu unterstützen und ihn nie mit Maria in ihrem Hause zusammenkommen zu lassen. Das versprach Mrs. Jones zwar nicht, sagte aber zu, sie werde die jungen Leute nicht mit Absicht zusammenbringen und Mr. Taylor veranlassen, Miss Dyers Besuche in ihrem Haus nicht als Gelegenheit zu einem Gespräch unter vier Augen benutzen zu wollen.

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Aus: H. und G. Taylor
Hudson Taylor
Ein Mann, der Gott vertraute

Brunnenverlag 1981
Seite 120 bis 136